Sie haben Spaß an ihrer Arbeit: Mitarbeiterinnen der Mobilen Pflege in Emmerich.Markus van Offern
Frau Meyer, ich höre, lese und sehe nur noch vom "Pflegenotstand". Können Sie mir erklären, was das ist?
Alexia Meyer Der Begriff stammt aus den 60er und 70er Jahren, als in Deutschland Krankenhäuser und Altenpflege ausgeweitet wurden. In Folge dessen kam es zu massivem Personalmangel. Auch heute besteht ein großer Mangel an Menschen, die Kranke, Alte und Behinderte pflegen und betreuen. Um die Schieflage zu verdeutlichen, ein paar Zahlen: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gibt es in Deutschland, Stand 2019, mehr als 4,1 Millionen pflegebedürftige Menschen. Mehr als 80 Prozent davon werden zu Hause versorgt. Dem gegenüber stehen, so schreibt es die Bundesagentur für Arbeit im aktuellen Bericht zur Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich, 1,9 Millionen erwerbstätige Pflegekräfte - 1,2 Millionen in der Kranken- und 700.000 in der Altenpflege. Das sind zwar 3,6 Prozent mehr als im Jahr 2018, aber bei weitem noch nicht genug. Und, das ist ganz wichtig zu wissen: Als die Zahlen erhoben wurden, gab es noch kein Corona.
Es geht also um einen akuten Personalmangel - wie ist es dazu gekommen?
Alexia Meyer Der Pflegenotstand hat viele Ursachen. Zum Beispiel die demografische Entwicklung. Immer mehr ältere Menschen sind auf die Versorgung von immer weniger jüngeren Menschen angewiesen. Auch der medizinische Fortschritt und die damit längeren Lebenserwartungen sowie die veränderten Familienstrukturen spielen eine Rolle. Auf der anderen Seite ist Pflegenotstand aber auch das Ergebnis politischer und gesellschaftlicher Entscheidungen. Immer mehr Überprüfungsmechanismen, hohe bürokratische Hürden und massive Sparmaßnahmen mit Arbeitsdichte zur Folge - das hat Konsequenzen. Zudem erschwert das öffentlich geprägte negative Image des Pflegeberufes die Nachwuchsgewinnung. Eigentlich ein unbegreiflicher Zustand: Denn Pflege bietet hervorragende Perspektiven, Sicherheit wie kaum ein anderer Beruf und ist im Vergleich zu anderen Jobs auch noch gut bezahlt.
Wie ist die Situation beim Caritasverband Kleve bestellt?
Alexia Meyer 2020 und 2021 haben wir - nicht zuletzt durch die Pandemie - den Pflegenotstand erstmals so richtig am eigenen Leib spüren können. Das heißt: Wir können unsere offene Stellen nicht mehr in angemessener Zeit nachbesetzen. Das ist für uns nicht nur ein neuer, sondern auch ein belastender Zustand. Er zerrt an den Kräften der Mitarbeitenden, die weiterhin mit ihrem Einfühlvermögen, ihrer Expertise und ihrer hohen Einsatzbereitschaft dabei sind. Denn trotz des Personalmangels: Patienten gekündigt haben wir bislang noch nicht! Wir fahren auch weiterhin in die Dörfer des Nordkreises, um kranke und alte Menschen zu Hause zu pflegen.
Was tun Sie, um den Pflegenotstand beim Caritasverband Kleve zu begegnen?
Alexia Meyer Wir versuchen, uns dem Problem zu stellen und zeigen, dass es sich immer noch lohnt, in der Pflege zu arbeiten. Aus diesem Grunde stellen wir in den nächsten Wochen und Monaten unsere Gesichter vor. Das ist die Theorie. In der Praxis müssen wir sicherlich unsere Dienstplanprinzipien überdenken. Bisher haben wir alles daran gesetzt, um Teildienste zu vermeiden. Auch ein wechselnder Tourenbeginn oder sogenannte Müttertouren fanden bei uns in der Regel nicht statt. Stattdessen investieren wir viel in Gleichbehandlung und attraktive Arbeitsbedingungen für möglichst viele Mitarbeiter. Unsere Idee ist: Wenig Vollzeitkräfte, wenig Teildienste, dafür flexible Wochenarbeitszeiten bis zu 35 Stunden.
Apropos Wochenarbeitszeit: Gibt es spezielle Arbeitszeitmodelle? Zum Beispiel für Alleinerziehende? Oder für Menschen, die nur am Wochenende arbeiten möchten?
Alexia Meyer Wir arbeiten schon immer mit individuellen Rolldienstplänen beziehungsweise Jahresplänen mit festen Wochenenden und Feiertagen. Falls es möglich ist, haben wir feste Spätdienstmitarbeiter. Das sorgt nicht nur für weniger Unruhe im Dienstplan, auch die Patienten fühlen sich mit festen Bezugspersonen wohler. Besonders für Mütter interessant sind unsere Wochenwechselmodelle (eine Arbeits- und eine Freiwoche im Wechsel) und unsere unterschiedlichen Tagewochen. Zum Beispiel die 1-Tag-Woche. Die Pflegefachkraft macht jedes zweite Wochenende Dienst. Das bringt gutes Geld und wenig Belastung bei der Betreuung der Kinder.
Was tun Sie, um Mitarbeiter zu gewinnen, um sie zu halten?
Alexia Meyer Alles, was wir können, jedoch im Rahmen von Gleichbehandlung und gerechtem Umgang. Wir wollen nichts versprechen, was wir nicht halten können. Dadurch haben wir bestimmt auch schon den einen oder anderen Bewerber verloren.
Oft geht es ja auch ums Geld. Mal ehrlich, was verdient eine Pflegefachkraft beim Caritasverband Kleve? Und wie schaut es mit Zulagen, Urlaub und Urlaubsgeld sowie betriebliche Altersvorsorge aus?
Alexia Meyer Als kirchlicher Wohlfahrtsverband liegen wir aus meiner Sicht gut im Rennen. Wir arbeiten mit Tarifverträgen, die an dem TVöD angelehnt sind. Das monatliche Gehalt laut AVR-Tabelle liegt zwischen 2880,56 Euro im ersten und 3589,56 Euro ab dem 16. Berufsjahr. Dazu kommen die Pflegezulage 1 in Höhe von 46,02 Euro bei 39 Stunden, die Pflegezulage 2 in Höhe von 70 Euro bei 39 Stunden, eine Jahressonderzahlung (86 Prozent des Gehalts) sowie Zuschläge für Bereitschaftsdienste, Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit. Zusätzlich finanziert der Arbeitgeber das sogenannte Leistungsentgelt sowie eine betriebliche Altersvorsorge.
Ist das genug?
Alexia Meyer Was ist heutzutage schon genug. Aber laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lag das monatliche Durchschnittseinkommen einer Pflegefachkraft über alle Tarife 2016 und mehr als 100 Euro über dem mittleren Einkommen in Deutschland.
Entgelt ist das eine, Wertschätzung das andere.
Alexia Meyer Das liegt natürlich immer im Auge des Betrachters. Aber ich finde, dass meine Leitungskollegen unheimlich engagiert sind. Sie stecken sehr viel Zeit, Überlegung und Herzblut in die Dienstpläne, um möglichst viele Mitarbeiter glücklich zu machen. Die Anzahl an Teildiensten bei einer Versorgung von mehr als 1300 Patienten ist verschwindend gering. Sie kennen ihre Kollegen, häufig auch die privaten Hintergründe, und versuchen immer auf die Wünsche einzugehen. Bei unseren Patienten genießen wir ebenfalls eine große Wertschätzung. Nichtsdestotrotz werden die Ansprüche und die Erwartungen immer größer und sind manchmal auch unrealistisch. Eine Pflege am Morgen bedeutet eben nicht eine Betreuung für den ganzen Tag. Die Verantwortung bleibt beim Patienten oder seinen Angehörigen.
Was bedeutet Pflege für Sie persönlich?
Alexia Meyer Ich mag meinen Beruf und auch meine Zielgruppe und grundsätzlich mag ich, Menschen zu helfen, ihnen zuzuhören, von ihren Erfahrungen und Lebensweisheiten zu lernen - das ist für mich immer noch spannend, gibt mir unheimlich viel.
Julia Lörcks von der Stabsstelle Kommunikation & Medien stellte die Fragen und fasste das Gespräch zusammen.
Zur Person: Alexia Meyer, Jahrgang 1969, leitet seit 2004 den Fachbereich Pflege und Gesundheit beim Caritasverband Kleve. Zuvor war sie als Pflegedienstleitung in der Mobilen Pflege in Emmerich am Rhein tätig. Alexia Meyer lebt mit ihrem Partner und zwei gemeinsamen Kindern in Kleve. Sie ist gebürtige Emmericherin und hat im Willibrord-Spital ihre Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. An der Hochschule Arnheim Nimwegen (HAN) studierte sie später berufsbegleitend Sozialpädagogik.