Lügde, Bergisch Gladbach, Münster - Nordrhein-Westfalen ist zuletzt mehrmals von schweren Fällen
des sexuellen Kindermissbrauchs erschüttert worden. Dabei ist der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Verwahrlosung, Misshandlung und Gewaltanwendung ein wesentliches Ziel des staatlichen Handelns. Dies gilt insbesondere auch für den Schutz vor sexuellem Missbrauch beziehungsweise sexualisierter Gewalt. Aus diesem Grunde fördert das Land den Ausbau spezialisierter Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Das haben die beiden Caritasverbände im Kreis Kleve, die Caritas Kleve und die Caritas Geldern-Kevelaer, zum Anlass genommen, gemeinsam eine Fachberatungsstelle einrichten zu wollen.
"Im März 2021 haben wir am Interessensbekundungsverfahren des Landes teilgenommen", berichtet Dirk Wermelskirchen, Fachbereichsleiter Kinder, Jugend und Familie beim Caritasverband Kleve. Das Ergebnis: Das Land fördert eine Stelle im Kreis Kleve. Genauer gesagt gibt es einen Zuschuss in Höhe von 80 Prozent für die Personalkosten - jeweils eine halbe Stelle im Nordkreis und eine halbe Stelle im Südkreis. Die restlichen 20 Prozent sollen, so lautet zumindest der Wunsch der Caritas im Kreis, von den Kommunen getragen werden. Die ersten positiven Rückmeldungen aus den politischen Gremien dazu liegen vor. "Wir hoffen demnach, im Januar 2022 mit der Fachberatungsstelle an den Start gehen zu können", sagt Dirk Wermelskirchen.
Das Angebot der neuen Fachberatungsstelle richtet sich an Familien im Kreis Kleve, in denen Kinder oder Jugendliche betroffen sind. "Auch bei Verdachtsfällen können sich Eltern an die Beratungsstelle wenden. Sie werden von uns umfassend beraten und begleitet", erklärt Dirk Wermelskirchen. Ebenso
können sich Familien melden, deren Kind durch grenzüberschreitendes oder sexuell übergriffiges Verhalten auffällig geworden ist. Vorrangiges Ziel ist es, für die Opfer ein umfassendes Unterstützungsangebot vorzuhalten. Die betroffenen Familien und deren Umfeld sollen miteinbezogen werden. Dazu gehören auch Fachkräfte, die sich ebenfalls bei einem Verdacht an die Beratungsstelle wenden können.
Neben der Beratung und Begleitung ist die Prävention eine weitere zentrale Aufgabe der Fachberatungsstelle. "Durch Angebote für Kitas und Schulen sollen potentielle Opfer Aufklärung erhalten. Ziel ist es, ihnen altersgerechte Wege zu zeigen, um missbräuchliche Strukturen zu erkennen und sich Hilfe zu holen - möglichst schon bevor etwas geschieht", erklärt Dirk Wermelskirchen. Zudem sollen für Fachkräfte Fortbildungsmodule angeboten werden, die sich sowohl mit dem Umgang mit Verdacht und Missbrauch an einem Kind, als auch auf das Erkennen missbräuchlicher Strukturen und Gegebenheiten auseinandersetzen.
Die geplante Fachberatungsstelle für sexualisierte Gewalt im Kreis Kleve soll an die bestehenden Strukturen der Caritasverbände angegliedert werden. Bei der Caritas Kleve ist das die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Familien. Sie wurde bereits 1963 in Goch gegründet und ist eine institutionelle Erziehungs- und Familienberatungsstelle, die als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe zu den Hilfen der Erziehung des Achten Buches Sozialgesetzbuch zählt (§§ 27 ff. SGB VIII). Aktuell gehören, inklusive Verwaltungskräften, zwölf Mitarbeitende zum Team der Erziehungsberatung. Unter der Leitung von Holger Brauer stehen sie den Familien im Nordkreis Kleve sowie in den Städten Kleve, Emmerich am Rhein und Goch beratend, diagnostisch und therapeutisch zur Seite.
Eine davon ist Katja Kleinebenne. Die Diplom-Psychologin, Familientherapeutin und Traumaberaterin hat bereits seit mehr als 20 Jahren Erfahrung in der Arbeit mit Familien, Kindern und Jugendlichen, die von Missbrauch betroffen sind oder waren. "Katja Kleinebenne deckt den Bereich ,sexueller Missbrauch‘ im Verband ab und soll diesen zukünftig auch als Mitarbeiterin der Fachberatungsstelle fortführen", sagt Dirk Wermelskirchen. Dazu nutzt sie neben ihren eigenen beraterischen und therapeutischen Fähigkeiten ein großes Netzwerk von Institutionen, um die jeweils passgenaue Hilfe für die unterschiedlichen Problemlagen zu finden. Denn auch das gehört zu den Aufgaben der Fachberatungsstelle: die Netzwerkarbeit im Kreis.
Zitat: "Wir hoffen, im Januar 2022 mit der Fachberatungsstelle an den Start gehen zu können." Dirk Wermelskirchen
Interview zum Thema: Frau Kleinebenne, was ist sexualisierte Gewalt?
Katja Kleinebenne (59) ist Diplom-Psychologin und in der Erziehungsberatung des Caritasverbandes Kleve für die Themen "Sex", sexuelle Übergriffe und Prävention zuständig. Ein Interview zum Schwerpunktthema.
Frau Kleinebenne, was ist sexualisierte Gewalt? Gibt es eine Definition?
Katja Kleinebenne Ja, die gibt es. Sexualisierte Gewalt ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einer Person gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Die Täter nutzen diese Unterlegenheit aus, um die eigenen sexuellen Bedürfnisse oder ihre Machtbedürfnisse zu befriedigen.
Welche Formen von sexualisierter Gewalt gibt es?
Katja Kleinebenne Man unterscheidet zwischen drei Formen von sexualisierter Gewalt. Das sind die Grenzverletzungen. Dabei handelt es sich um ein einmaliges oder gelegentliches unangemessenes Verhalten, das zumeist unbeabsichtigt geschieht. Ein sexueller Übergriff hingegen ist ein häufiges oder massives Hinwegsetzen über Grenzen. Sie geschehen bewusst und in der Regel nicht einmalig. Zuletzt gibt es noch die strafrechtlich relevanten Formen von sexualisierter Gewalt. Jene Handlungen, wo jeder weiß, das ist nicht richtig. Wobei der sexuelle Missbrauch die schlimmste Form der sexualisierten Gewalt ist.
Wer sind die Opfer?
Katja Kleinebenne Laut Kriminalstatistik sind zwei Drittel der Opfer Mädchen, ein Drittel sind Jungen. Jedes fünfte Mädchen und jeder zehnte bis zwölfte Junge ist betroffen. Mehr als die Hälfte der Opfer werden mehrmals missbraucht, teilweise über Jahre. Ein Drittel der Fälle beginnen vor dem zehnten Lebensjahr. In Deutschland kommen etwa 41 Fälle pro Tag zur Anzeige, wobei die Dunkelziffer natürlich viel höher liegt.
Wer sind die Täter? Und gibt es auch Täterinnen?
Katja Kleinebenne Überwiegend Jungen und Männer, die ihre Macht missbrauchen und ihre Bedürfnisse befriedigen. Täterinnen gibt es auch. Dabei handelt es sich meist um Mütter, die nicht hingeschaut haben. Um Co-Täterinnen oder Mitwisserinnen.
Wo findet überall sexualisierte Gewalt statt?
Katja Kleinebenne Überall. Es gibt nichts, wo Missbrauch nicht stattfindet. Im Elternhaus, in der Schule, bei Freunden, auf der Arbeit, drinnen, draußen. Wobei sich gezeigt hat: In den seltensten Fällen findet sexualisierte Gewalt draußen durch fremde Personen statt. Vielmehr ist es das familiäre Umfeld. Dort, wo man es sich eigentlich nicht vorstellen kann und mag.
Wie gehen die Täter vor?
Katja Kleinebenne Sehr strategisch. In erster Linie versuchen sie zu manipulieren. Nicht nur die Opfer, die Kinder und Jugendlichen, sondern auch die familiären Bezugspersonen. Aber auch Fachkräfte sind gegen Täterstrategien nicht gefeit.
Was kann man dagegen tun?
Katja Kleinebenne Wach sein und Gedanken zulassen. Bei sexualisierter Gewalt darf es keine Denk- und Redeverbote geben. Menschen müssen sich trauen, Dinge anzusprechen.
Und was tun im Fall X
Katja Kleinebenne Das ist schwierig, pauschal zu beantworten. Im besten Fall spricht man erst einmal nur mit einer vertrauten Person und bespricht das weitere Vorgehen. Auch wir von der Beratungsstelle können erste Ansprechpartner sein, mit Rat und Tat zur Seite stehen und Hilfestellungen geben.
Kann man sich vor sexualisierter Gewalt schützen?
Katja Kleinebenne Nicht zu 100 Prozent. Aber man kann viel dafür tun, dass es nicht passiert. Und da ist die Aufklärung das A und O - beginnend im Kindergarten über die biologische Aufklärung in der Schule hinaus. Was machen Erwachsene? Was dürfen Erwachsene? Welche Rechte habe ich als Kind? Was muss ich tun, wenn es doch passiert? Ich habe mal eine junge Frau gefragt, wie man sie hätte schützen können. Sie antwortete mir: "Hätte ich mal gewusst, dass das nicht alle Väter machen." Solches Wissen muss von klein auf vermittelt werden. Das muss eine Selbstverständlichkeit werden.
Was kann oder muss ein Verband wie die Caritas Kleve tun?
Katja Kleinebenne Es muss vor allem klare Leitlinien für den Umgang mit Nähe und Distanz geben - sowohl nach innen als auch nach außen. Welche Haltung haben wir zu angemessenen und unangemessenen Umgangsformen? Wo finde ich Informationen, wer sind meine Ansprechpartner, wo meine Anlaufstellen? Gibt es ein Beschwerdemanagement? Auch sollten wir in unseren Einrichtungen, in unseren Familienzentren oder in der "Münze", ein sexualpädagogisches Konzept vorhalten und stets wissen, wer für die Inhalte und für die Aufklärung zuständig ist.
Julia Lörcks von der Stabsstelle Kommunikation und Medien stellte die Fragen und fasste das Gespräch zusammen.
Zur Person: Katja Kleinebenne (59) aus Goch ist Diplom-Psychologin. Sie arbeitet seit 18 Jahren für den Caritasverband Kleve, in der Erziehungsberatung ist sie für die Themen Sexualität, sexuelle Übergriffe und Prävention zuständig.